Phänomen Kriminalität

Das Thema Kriminalität – jeder kennt es. Die meisten von uns haben sich bislang aber wahrscheinlich eher weniger damit auseinandergesetzt. Aber was genau definiert man unter diesem Begriff und wie entsteht Kriminalität? Gibt es Einflussfaktoren, wenn eine Person eine kriminelle Handlung begeht? Und welchen Einfluss hat die COVID 19 Pandemie auf die Kriminalität in Österreich?

Im Interview mit Herrn Univ.-Prof. Dr. Alois Birklbauer, Frau Assoz.-Prof.in Dr.in Barbara Stiglbauer und Herrn Assoz.-Univ.-Prof. Dr. Helmut Hirtenlehner haben wir diese und noch weitere Fragen geklärt. 

Wie entsteht Kriminalität und wie würden Sie diesen Begriff definieren? 
Birklbauer: Unter Kriminalität im strafjuristischen Sinn sind Verstöße gegen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (StGB) zu verstehen. Zur Entstehung von Kriminalität gibt es verschiedene Ansätze. Da die Strafnormen von demokratisch legitimierten Gesetzgebungsorganen geschaffen werden, entsteht Kriminalität letztlich dadurch, dass ein bestimmtes unerwünschtes Verhalten für strafbar erklärt wird. Freilich berufen sich die Rechtsordnungen darauf, nur jenes Verhalten zu kriminalisieren, das dem fundamentalen gesellschaftlichen Wertekonsens in hohem Ausmaß zuwiderläuft (Strafrecht als letztes Mittel = Ultima-Ratio-Grundsatz). Insofern führt die Frage nach der Entstehung von Kriminalität letztlich zur Frage, warum sich Menschen nicht an den gesellschaftlichen Wertekonsens halten. Darüber gibt es ganze Bibliotheken, die Kriminalitätsursachen in sozialen Verhältnissen, Bildung, Erbgut usw. sehen.

Stiglbauer: Kriminelles Verhalten ist jegliche Form von Verhalten (ob entdeckt oder nicht), das gegen die Gesetze verstößt, die in einem bestimmten Land herrschen, und welches demnach bestraft wird. Diese vorherrschende Definition ist nicht unproblematisch, da sie sich nur auf Handlungen bezieht, die durch das Justizsystem verfolgt werden. Es ist jedenfalls wichtig zwischen verschiedenen Formen von kriminellem oder generell antisozialem Verhalten zu unterscheiden (z.B. Diebstahl, illegaler Drogenkonsum, Gewaltverbrechen, Vandalismus, Betrug, Autoritätsverstöße, riskantes Fahrverhalten, Glücksspiel usw.), weil die zugrunde liegenden Entstehungsmechanismen oft unterschiedlich sind. Ob jemand kriminelles Verhalten zeigt, hängt von vielen Faktoren ab. Hier spielen Personenmerkmale eine Rolle (z.B. antisoziale Einstellungen, Persönlichkeitsmerkmale), soziale Faktoren (z.B. familiäres Umfeld, Peers), gesellschaftliche Faktoren (z.B. Wohngegend, Nachbarschaft), genauso wie situative Merkmale (z.B. Gelegenheiten, Stressoren).

Welche Einflussfaktoren gibt es bei einer kriminellen Handlung? 
Birklbauer: Nachdem es den „geborenen Verbrecher“ nicht gibt, können verschiedene äußere Umstände wie schlechte soziale Verhältnisse, Gruppendruck usw. Kriminalität beeinflussen. Darüber hinaus können persönliche Merkmale und Charakterzüge Kriminalität begünstigen. Erklärungen können auch Erziehungsdefizite in einem weiten Verständnis sein, wenn es also Bezugspersonen nicht gelungen ist, zentrale Werteinstellungen der Gesellschaft zu vermitteln.

Stiglbauer: Wie bereits erwähnt gibt es viele Einflussfaktoren für kriminelles Verhalten. Neben den oben erwähnten Einflussfaktoren können auch psychiatrische Erkrankungen zu kriminellen Handlungen beitragen, vor allem solche, die mit geringer Impulskontrolle, Halluzinationen, Paranoia, Hyperaktivität, beeinträchtigte Sozialkompetenz einhergehen. Ebenso können bestimmte Hirnverletzungen kriminelles Verhalten anstoßen. Auch Alkohol- und Drogenkonsum zählt zu den Einflussfaktoren. Was genetische Einflussfaktoren, also die Erblichkeit von antisozialem Verhalten, betrifft, so kommen Studien zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Einige Studien weisen darauf hin, dass Kinder von kriminellen Eltern ein ca. doppelt so hohes Risiko haben selbst kriminelles Verhalten zu zeigen als Kinder von nicht-kriminellen Eltern. Dies ist aber nicht nur auf genetische Faktoren zurückzuführen, sondern auch auf das soziale Umfeld, in dem die Kinder aufwachsen. 
Generell sind einer der wichtigsten Einflussfaktoren für jedes Verhalten, und somit auch für kriminelles Verhalten, Einstellungen. Also antisoziale Einstellungen spielen eine wesentliche Rolle im Entstehen von kriminellen Handlungen. Und für die Bildung von Einstellungen ist wiederum der soziale Kontext, in dem wir uns befinden, wesentlich.

Hat sich die Kriminalitätsrate in Österreich während der Corona Pandemie verändert? 
Birklbauer: Entsprechend der Kriminalitätsstatistik, welche die angezeigte Kriminalität (= das Hellfeld) abbildet, gab es – wenig überraschend – während der Corona-Pandemie einen Rückgang bei den Diebstahlsdelikten (insbesondere bei Einbrüchen) und eine Zunahme bei Cybercrime. Dies überrascht wenig, waren doch die Gelegenheiten für Diebstähle infolge des Lockdowns weniger und jene für Cybercrime mehr. Etwas überraschend gab es keine allzu starke Zunahme bei Gewalt im sozialen Nahbereich. Das könnte aber dadurch erklärbar sein, dass hier die Opfer weniger anzeigebereit sind und somit die Steigerung das so genannte Dunkelfeld betrifft. Es ist nur schwer vorstellbar, dass das durch den Lockdown aufgezwungene permanente Zusammenleben auf engstem Raum nicht zu Gewaltausbrüchen geführt hat.

Stiglbauer: Dazu sind mir keine Zahlen bekannt. Was wir jedenfalls aus internationalen Studien sehen (und was auch bereits in den Medien wiederholt berichtet wurde), ist, dass z.B. häusliche Gewalt zugenommen hat. Dies lässt sich dadurch mehrere Aspekte erklären: Kündigungen, Einkommensverluste, mehr Zeit gemeinsam auf engem Raum und damit mehr Konfrontation mit den „Eigenarten“ und Gewohnheiten der MitbewohnerInnen; das alles erhöht das Stresslevel, was wiederum ein wesentlicher Einflussfaktor für das Entstehen von Gewalt ist.
Was internationale Studien außerdem zeigen, ist, dass die Technologie-/Internetnutzung durch COVID-19 stark angestiegen ist; demnach haben auch die technologie-gestützten Möglichkeiten für Stalking zugenommen. 

Hirtenlehner: Daten haben wir nur zur behördlich registrierten (also angezeigten) Kriminalität. Dazu kann man sagen: Während des Lockdowns sind viele Formen der Straßen- und Einbruchskriminalität zurückgegangen, dafür haben Internetdelikte (und möglicherweise ein wenig die häusliche Gewalt) zugenommen.

Wie sieht es mit der Cyberkriminalität aus? 
Stiglbauer: Viele der Befunde, die es zu Kriminalität generell gibt, kann man auch auf Cyberkriminalität übertragen – allerdings nicht uneingeschränkt. Z.B. zeigen Studien, dass Opfer von Cyberkriminalität (vor allem Hacking, Betrügereien im Konsumbereich) viel weniger oft Anzeigen machen als Opfer von „traditionellen“ kriminellen Handlungen. Auch bringen Studien oft sehr unerwartete Ergebnisse ans Licht, z.B. dass sexuelle Übergriffe, Voyeurismus etc. in einigen Ländern mit zunehmender Verfügbarkeit von Pornographie zurückgegangen sind. Es ist also besonders wichtig, Cyberkriminalität gesondert zu untersuchen.

Denken Sie, dass eine „strengere“ Strafe eine Person eher davon abhält, eine kriminelle Tat zu begehen? 
Birklbauer: Hier sprechen die empirischen Daten ein eindeutiges Bild. Straftäter*innen lassen sich im Regelfall nicht durch strengere Strafen beeinflussen. Es reicht vielfach, dass irgendeine Reaktion stattfindet, wobei diese nicht unbedingt durch den Staat erfolgen muss, sondern auch informell durch das soziale Umfeld gesetzt werden kann. Die Idee der Abschreckung als negative Prävention existiert letztlich nur in den Köpfen der Rechtsanwender*innen sowie in der breiten Masse, die aber im Regelfall ein ausreichendes Wertebewusstsein hat, sodass es bei ihr nicht auf die Abschreckung ankommt. Die beste Kriminalprävention ist die soziale Integration in die Gesellschaft, insbesondere durch Schaffung von Chancen auf Persönlichkeitsentfaltung. Insofern kommt der Sozial- und Bildungspolitik jedenfalls eine weitaus größere Bedeutung zu als (hohen) Strafen.

Hirtenlehner: Der Forschungsstand zeigt sehr konsistent, dass härtere Strafen in der Regel nicht zu weniger Kriminalität führen.

Stimmt es, dass Menschen, die in sozialschwächeren Strukturen leben, mehr Bereitschaft zur Kriminalität zeigen? 
Stiglbauer: Ja, dies ist ein stabiles Forschungsergebnis: Soziale Ungleichheit geht mit höherer Kriminalität einher, genauso auch mit anderen problematischen Aspekten, wie geringerer Gesundheit.